Wie man die öffentliche IT rettet

Die meisten IT-Fuzzis sind gar nicht so dämlich. Es gibt genügend Leute, die gute Ideen haben und sinnvoll dazu beitragen könnten, Dinge besser zu machen. Zum Beispiel die Corona-Infektionsnachverfolgung, über die ich gerade diese Meldung gelesen habe, die mich schier in den Wahnsinn treibt (sorry für das Medium):

»Der Bund verweigert dem Robert Koch-Institut (RKI) während der zweiten Corona-Welle eine dringend notwendige Aufstockung des Personals. […] Der Haushaltsausschuss des Bundestags bewilligte dem RKI für den IT-Bereich nach Informationen von WELT AM SONNTAG Ende November lediglich vier neue Stellen – von 68, die das Institut beantragt hatte.«

In einer Zeit wie der aktuellen an der IT, die sich um die Bekämpfung der Pandemie kümmert, zu sparen, ist an Blödheit durch wirklich nichts zu übertreffen. Wer auch immer diese Entscheidung getroffen hat, gehört selbstverständlich strafversetzt, das ist für mich überhaupt keine Frage. Aber es hat mich daran erinnert, dass ich schon länger einmal meine Meinung dazu aufschreiben wollte, was man eigentlich tun müsste, um die öffentliche IT zu verbessern. Mehr Geld zu investieren erscheint mir fast die einfachste Aussage dabei. Aber was macht man mit dem Geld? Wem gibt man es?

Entwickler und Entwicklerinnen, die gut darin sind, IT-Lösungen zu konzipieren und umzusetzen, gibt es selbstverständlich auch bei den großen Systemintegratoren und Unternehmenberatungen in Deutschland, McKinsey, T-Systems, Accenture, BCG usw., die typischerweise öffentliche Aufträge bekommen (so wie z.B. bei der Corona Warn App). Ich persönlich glaube, es gibt noch mehr davon bei kleineren Unternehmen wie z.B. dem, für das ich selbst tätig bin. Aber mir ist klar, dass man es mir mit einiger Berechtigung als tendenziöse Aussage auslegen kann, wenn ich lieber kleinere Unternehmen als große bei öffentlichen Aufträgen sehen würde. Aber das ist gar nicht das, worauf ich hinaus will.

Was dann? Sehe ich das Heil in Open-Source-Lösungen, vertraue ich darauf, dass die Community magisch gute Lösungen baut? Quatsch. Natürlich gibt es tolle Open-Source-Software, aber ohne Incentives entstehen hier (zu recht) nur genau die Dinge, auf die Leute Lust haben, und sobald die Aufgaben unangenehm werden, wird man lange suchen müssen, bis man jemanden findet, der die Dinge freiwillig, dauerhaft und zuverlässig erledigt. Warum auch? Die meisten Menschen haben schon einen Job, der für sie an erster Stelle steht. Ehrenamtliche Tätigkeit ist toll, sollte aber immer nur so genutzt werden, dass man auf sie im Zweifelsfall auch verzichten kann.

Was brauchen wir also eigentlich wirklich? Aus meiner Sicht sind die Antworten darauf eindeutig:

  1. Öffentliche Auftraggeber brauchen Geld, um es in IT investieren zu können.
  2. Viel wichtiger jedoch: Sie brauchen IT-Kompetenz, und zwar ganz massiv und in allen Bereichen, in denen sie Aufträge vergeben. Es gibt heute keine einzige Behörde, kein einziges Amt, keine Stadt-, Kreis-, Landes- oder Bundesbehörde, die nicht in ganz erheblichem Umfang von IT abhängt (bzw. es tun sollte, um sich zu verbessern).
  3. Der einzige Weg, solche Kompetenz dauerhaft aufzubauen und zu halten, ist durch festangestellte, gute, motivierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die die wichtigen Entscheidungen treffen. Natürlich können diese externe Expertise oder Kapazität hinzuziehen, wenn es nötig ist, aber sich von Externen abhängig zu machen, ist ein sicherer Weg ins Verderben. Inkompetenz wird von Anbietern ausgenutzt, zum Schaden aller (mancher mag ergänzen: mit Ausnahme des Anbieters).
  4. Eine starke, interne IT, die sowohl selbst Lösungen entwicklen als auch kompetent Aufträge vergeben kann, ist der entscheidende Erfolgsfaktor. Idealerweise entwickelt sie diese Lösungen dann als Open Source, damit sie von anderen Institutionen wiederverwendet werden können.
  5. Die öffentliche Hand muss nicht nur Stellen genehmigen, sondern sie muss auch ein attraktiver, konkurrenzfähiger Arbeitgeber sein. Natürlich sind Beamtenstatus, Arbeitsplatzgarantie, Pensionsansprüche usw. eine tolle Sache und lassen sich zu einem gewissen Grad in Gehalt umrechnen. Aber IT-Spezialisten und -Spezialistinnen, die in der freien Wirtschaft das zwei- oder dreifache verdienen können, werden sich zu recht sehr genau überlegen, ob sie bei einem Amt anheuern.

Die Krise in der öffentlichen IT wird nicht zu beseitigen sein, bevor man Punkt 4 nicht aggressiv angeht. Ich habe wenig Hoffnung, dass das kurzfristig passiert – schließlich müssten Entscheidungsträger dafür kämpfen, Menschen mehr zu bezahlen, als ihre eigenen »Untergebenen« oder vielleicht sogar sie selbst verdienen. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass das der einzig sinnvolle Weg aus der Misere wäre. Und manche Länder haben vorgemacht, dass so etwas funktionieren kann.

Update 2020-12-07: Gehalt ist natürlich nur ein Aspekt, und weder der einzige noch der wichtigste. Ein paar meiner Gedanken dazu finden sich in diesem Follow-up.